C. Bosshart-Pfluger u.a. (Hrsg.): Nation und Nationalismus in Europa

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Titel
Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Festschrift für Urs Altermatt


Herausgeber
Bosshart-Pfluger, Catherine; Jung, Joseph; Metzger, Franziska
Erschienen
Frauenfeld 2003: Huber Verlag
Anzahl Seiten
917 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Zsolt Keller, Zürich

Die für den Freiburger Historiker Urs Altermatt zum Anlass seines 60. Geburtstags herausgegebene Festschrift vereint Beiträge seines akademischen Freundes- und Kollegenkreises aus Freiburg, der Schweiz und dem Ausland. Es ist nur konsequent, dass die Festgabe an Altermatt, der sich in seinen Forschungen besonders mit der schweizerischen Politik-, Kultur- und Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, das Verhältnis von Religion, Sprache und Nation, der Beziehung von Minderheiten, von Exklusion und Inklusion im schweizerischen und europäischen Nationalstaat zum Gegenstand hat.

Die rund 42 Beiträge sind in sechs verschiedene Gruppen eingeteilt. Die Vielfalt der in dieser Festschrift enthaltenen Gedanken und Thesen erlaubt es nicht, auf jeden einzelnen Beitrag einzugehen. Die Rezension bleibt ein Fragment. Deshalb soll in einem Tour d’Horizon auf einige ausgewählte Beiträge der verschiedenen Teilbereiche eingegangen werden.

Unter dem Titel Nation, Kultur, Identitäten vereint der erste Teil Beiträge, die sich der Thematik aus theoretischer Perspektive nähern. Der Grazer Historiker Moritz Csáky setzt sich mit Gedächtnis, Erinnerung und der Konstruktion von nationalen Identitäten am Beispiel Zentraleuropas auseinander. Er tut dies u.a. mit Hinweisen auf Kulinarisches: In der «Wiener Küche» – so Csáky – bilde die Speisenabfolge Gulaschsuppe, Wienerschnitzel und «Powidltatschkerl» ein typisches Wiener Menü. Die genaue Analyse dieser Speisen offenbare aber, dass das Wienerische etwas weiter her sei. Die Gulaschsuppe sei eine Mischung von ungarischem «gulyás» und «pörkölt», das Wienerschnitzel leite sich vom «Costoletta Milanese» ab und die Powidltatschkerl seien eine böhmische bez. tschechische Süssspeise. Diese Gerichte der Wiener Küche sind nach Csáky «flottierende Elemente», die sich z.T. von ihrem ursprünglichen ungarischen, italienischen und tschechischen (resp. böhmischen) Kontext gelöst und zu einem «typischen Wiener kulturellen Code» zusammengefügt haben. Von diesem Beispiel ausgehend, dem man noch weitere aus dem Bereich der konkreten Sprache, der sprachlichen Metaphorik, der Musik, der Architektur etc. beifügen könnte, plädiert Csáky dafür, Gedächtnisorte nicht bloss zu de-konstruieren, sondern diese vielmehr zu re-kontextualisieren. Diese Vorgehensweise zeige nicht nur die Funktion von Gedächtnisorten im Hinblick auf die Konstruktion kollektiver nationaler Identität auf, sondern erfasse zudem ihre Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Fragmentiertheit. Jacques Picard, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur der Moderne an der Universität Basel, lässt in seinem Beitrag die Ideen des jüdischen Philosophen und Aufklärers Moses Mendelssohn wieder aufleben. Von den Gedanken Mendelssohns inspiriert, der den letzten Zweck der Religion nicht in der «Vereinigung des Glaubens», sondern in gegenseitiger Toleranz sah, stellt Picard Überlegungen zu den Menschenrechten und über die Paradoxie von Universalität und Partikularität in der Moderne an. Am Schluss seiner Zeilen geht es Picard um die «Innovation einer community of communities und einer Kultur der Kulturen. Pluralismus innerhalb einzelner Religionen und Kulturen» – so Picard – «ist [...] ein Schlüssel für die Selbsterhaltung einer Gruppe, jedenfalls aber für Toleranz in multireligiösen und multikulturellen Gesellschaften» (S. 76).

Der zweite Teil beleuchtet Prozesse von Staats- und Nationalstaatenbildung aus historischer Perspektive. Er setzt sich mit der Entstehung des Nationenbegriffs auseinander und enthält auch Länderstudien. «Was ist eine Nation?» – so lautet die grundsätzliche Frage, der Hans-Joachim Schmidt nachgeht. Der Freiburger Mediävist tut dies anhand der Analyse der Konzilien des 15. Jahrhunderts als «Bühnen des Interessenkampfes» und als Orte des Debattierens. Auf dem Konzil von Konstanz (1414–1418) gliederten sich die Beratungs- und Entscheidungsgremien erstmals nach dem Prinzip der Nationen». Gemeint waren vier Konzilsnationen, nämlich die der Franzosen, Italiener, Engländer sowie der Deutschen, denen auch die Konzilsväter aus dem Norden und Osten Europas angehörten. Die nach unseren Massstäben eher rudimentäre – Einteilung reichte in der Folgezeit nicht mehr aus, um alle Interessen der einzelnen Herkunftsgruppen zu befriedigen. Es wurden Stimmen nach vertiefter Differenzierung laut. Die Diskussion weitete sich von der Frage nach einer prozeduralen Gliederung auf die Frage nach den Grundlagen einer nationalen Gliederung nach Territorium, Sprache, Geschichte und Gewohnheit aus. Besonders umstritten war, ob sich eine Nation durch Homogenität, was ihre Konsistenz gegenüber anderen Nationen betrifft, oder aber Heterogenität, was ihre Grösse, Vielfalt und damit verbunden ihren Rang repräsentierte, auszeichnete. Die Mehrdeutigkeit der Definitionen des Nationenbegriffes konnten die Konzilien des 15. Jahrhunderts nicht auflösen. Sie brachten aber – so Schmidt – Deutungsangebote hervor, die auch für die heutige Forschung von Bedeutung sind. Volker Reinhardt, Professor an der Universität Freiburg, zieht die historische Linie weiter. Er präsentiert Anmerkungen und Thesen zu Nation und Nationalismus in der Frühen Neuzeit. Die Bildung einer Nation um 1500 stellte «a priori eine ungewöhnlich anspruchsvolle Denk-Aufgabe» dar, die einer geistigen Elite, die mehr der Feder als dem Schwert zugewandt war, zuteil wurde. Aus diesem Grund spürt Reinhardt in seinen Ausführungen dem Denken und Tun der Humanisten nach. Dabei fördert er Erstaunliches zu Tage. So z.B. die These, dass Nation und frühneuzeitliche Monarchie keine Gegensätze darstellen. Die Grossartigkeit der Lebensführung sowie die Selbstdarstellung der frühneuzeitlichen Herrscher, ihre generöse Förderung «von Tugend und Talent wird von den Humanisten [...] zum sicher ablesbaren Merkmal gottgewollter, legitimer Herrschaft erhoben» (S. 165). Diesem höfisch-hierarchisch, bisweilen aber auch pädagogisch argumentierenden Modell steht das nationale Begründungsmuster der Eidgenossenschaft als Alternative gegenüber. Ihre Basis bestand in einem volitiven Prinzip bündnisch-solidarischen Zusammenschlusses. Die Tapferkeit und der unbeugsame Freiheitswille der Helvetier der römischen Übermacht gegenüber wurden zur Maxime und bestimmten fortan die Definition von Nationalcharekteristika. Im Konfessionellen Zeitalter, mit seinem Anspruch auf rigorose Glaubensorthodoxie, geriet das Projekt «Nation» in eine tiefe Krise, die sodann zur Zerreissprobe wurde. Im Hinblick auf die nationale Begründungsmotivik hiess dies, «dass Nation überkonfessionell, innerweltlich verifizierbar, empirisch nachweisbar definiert und damit zur wissensmässigen, ja wissenschaftlichen Tatsache» erhoben werden sollte (S. 176). Ernst Hanisch, Professor an der Universität Salzburg, stellt in seinem Beitrag die österreichische Identität in Beziehung zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Nach einer Zeit der Trivialisierung des Widerstandes – so Hanisch – erfolgte in den achtziger Jahren eine Trendwende, die von der so genannten «Waldheimaffäre» ausging. Die folgende öffentliche Debatte stellte jedoch den österreichischen Widerstand ins wissenschaftliche Abseits, da diese indirekt in Verdacht stand, nur der eigenen Rechtfertigung zu dienen. Hanisch geht von einer zweifachen Nationsbildung Österreichs aus. Den ersten Nationalismus der Österreicher charakterisiert er durch die Bindung an die Krone, an das Erzhaus sowie an den grossen Wirtschafts- und Sozialraum. Mit dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland wurde diese erste Form des Nationalismus, der mit vielen traditionellen Elementen und auch Anklängen an das Deutschtum versehen war, zerstört. In die Periode des NS-Regimes fiel der radikale Bruch der Österreicher mit dem Deutschtum. Nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte die lange Tradition der doppelten Identität der Österreicher, als Deutsche und Österreicher, eine autochthone Nationsbildung, «indem das deutsche Element negiert und kriminalisiert wurde». Obwohl Hanisch mehrfach darauf hinweist, dass in Österreich kein nationaler Widerstand wie in den anderen besetzten Ländern existierte, sieht er im «Widerstand eine Wurzelzone des österreichischen Nationalbildungsprozesses», insofern der Widerstand die psychologische Voraussetzung dafür bereitstellte (S. 296). Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die parteigebundenen Männer aus dem Widerstand und der Verfolgung die politische Elite der Zweiten Republik stellten.

Mythen, Symbole, Heldenkult und Gedächtnisorte des Konstrukts «Nation» stehen im Zentrum des dritten Teils dieser Festgabe. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zeichnen die hier gesammelten Beiträge die Konstruktion von Erinnerung nach. Der Kunsthistoriker Victor I. Stoichita beginnt mit einer Anekdote aus seiner Kindheit in Bukarest. Ende der 1950er Jahre verschwand über Nacht eine Stalinstatue, die den Eingang zu einem öffentlichen Garten zierte, auf wundersame Art und Weise. Erst als Student der Kunstgeschichte an der Universität Bukarest erfuhr er von den wahren Umständen dieses mysteriösen Verschwindens. Ursprünglich sollte nach dem XX. Parteitag der KPdSU lediglich der Kopf Stalins durch den Lenins ersetzt werden. Doch in letzter Minute bemerkten die verantwortlichen Funktionäre, dass die Generalsuniform, die Stalin trug, zu Lenin ganz und gar nicht passte. Um in der Bevölkerung kein Ärgernis zu erregen, wurde die Statue eingeschmolzen und aus der Bronze eine Leninstatue – diesmal ohne Uniform – gegossen. In seinem Beitrag geht Stoichita der executio in effigie der sinnbildlichen Hinrichtung eines in Abwesenheit Verurteilten – nach. Gemeint ist der nach dem Zerfall des Ostblocks einsetzende Ikonoklasmus, die Zerstörung der Symbole und Monumente des untergegangenen Regimes. In der Zerstörung und Entfernung der zahlreichen Statuen und Bilder sieht Stoichita nicht einen Akt des rüden Vandalismus, sondern eine aktive Kritik an alten Bildern und Idolen («une critique active des anciennes images»), die er mit der Denkform der executio in effigie zu erklären versucht.

Der Ethnisierung von Politik in den westeuropäischen Ländern im Zusammenhang von Nationalismus und Rassismus, Rechtspopulismus und Rechtsextemismus zum einen, der ethnonationalistischen Konfliktlinien im ostmittel- und südosteuropäischen Raum zum anderen sind die Beiträge des vierten Teiles gewidmet, der mit dem Titel Ethnisierung von Politik und Gesellschaft versehen ist. Mit dem politischen Aufstieg Pim Fortuyns hat die «europäische Oase» der Niederlande ihre vermeintliche Unschuld der «political correctness» verloren, so eine der Thesen von Jan Roes (Professor für Niederländischen Katholizismus in Nijmegen), der einige Betrachtungen über den politischen Fortuynismus anstellt. Detailliert zeichnet Roes Herkunft und Werdegang dieses enfant terrible der niederländischen Politik und die Chronik seiner «Polit-Soap» nach. Die Geschichte Fortuyns ist voller Paradoxe. Obwohl Fortuyn nicht zum politischen Establishment gehörte, durfte er am politischen Leben teilhaben. Obwohl er eigentlich eine Professur anstrebte, verfolgte er eher politische denn wissenschaftliche Ziele. Obwohl er öffentlich mit seiner Homosexualität kokettierte, profilierte er sich als gläubiger Katholik und erhielt nach seinem gewaltsamen Tod ein bischöfliches Requiem in der Kathedrale zu Rotterdam. Das Phänomen Fortuyn lässt sich nur schwerlich fassen. Dies beweist auch, dass Roes vom Fortuynismus spricht. Seine Politik war u.a. von einer eklatanten «Desintegration von Politik und Gesellschaft» – Fortyn wird das Verdienst zugeschrieben, die Politik den Bürgern zurückgegeben zu haben – und einem intensiven Gebrauch der Medien geprägt. Im Urteil von Roes sind die Ideen Fortuyns eher dem populistischen als dem rechtsextremen Lager zuzuordnen.

Die «Wirkungsdimension» des Religiösen in den modernen Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts steht im Zentrum des fünften Teiles der Festschrift und trägt den Titel Religion, Nation und Staat. Marcel Poorthuis und Theo Salemin von der Universität Utrecht untersuchen in ihrem Beitrag das Verhältnis von Katholizismus und Zionismus am Beispiel der Niederlande. Dieses Unterfangen ist nicht einfach, da der Zionismus selbst in den jüdischen Kreisen sowohl aus religiöser als auch aus politischer Sicht nicht unumstritten war. Die protestantischen Kirchen suchten nach einer wortgetreuen und aktuellen Erfüllung der Verheissung der «Rückkehr der Verbannten». Aus diesem Bestreben heraus entstand ein Philosemitismus mit einem feurigen Bekehrungsdrang und schliesslich der Dialog zwischen den protestantischen Kirchen und dem Judentum. Auf katholischer Seite wurde dem Zionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Am Rande zeigten die niederländischen Katholiken jedoch eine bemerkenswerte Initiative, die vom Vatikan, mit seiner traditionell antizionistischen Einstellung, kontrovers bis ablehnend beurteilt wurde. Für die Haltung des katholischen Milieus waren neben politischen auch theologische Gründe verantwortlich. So z.B. die Idee der Substitution – die Vorstellung, dass die Kirche den Platz des Judentums als auserwähltes Volk eingenommen habe. Doch während der Zeit der Judenverfolgungen entwickelte sich innerhalb des katholisch-humanitären Ansatzes doch ein Verständnis für den Zionismus als einzige vernünftige Möglichkeit, der Judenverfolgung zu entkommen (S. 694). Auch nach der Shoa und der Staatsgründung schien der katholische Widerstand gegen Israel anzuhalten. Theologisch entspannte sich die Lage erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Lediglich die bereits erwähnte katholisch-humanitäre Betrachtungsweise des Existenzrechts des Staates Israels vermochte nach der Shoa den Antizionismus einzudämmen.

Der sechste und letzte Teil des Buches – Zwischen Universalismus und Partikularismus – befasst sich mit den Wechselwirkungen und Spannungen zwischen den einzelnen Nationalstaaten und kleineren regionalen Einheiten sowie der europäischen Integration und Globalisierung. Mit der Rolle des Nationalstaates in einer globalisierten Welt setzt sich Erhard Busek, Regierungsbeauftrager Österreichs für EU-Erweiterungsfragen, auseinander. Busek zählt eine Vielzahl von Problemstellungen auf, die in einer globalisierten Welt immer virulenter werden und denen man kaum mit der Bewahrung nationaler Interessen begegnen könne. Aber trotzdem hält Busek fest, «dass der Nationalstaat noch lange nicht ausgespielt hat, aber sich in einem ungeheuer starken Adaptationsprozess befindet» (S. 850). Der Anhang beinhaltet schliesslich u.a. eine Publikationsliste des Jubilars. Es versteht sich von selbst, dass diese Auswahl das enorme Spektrum der Beiträge nur anzudeuten vermag. Die Festgabe an Urs Altermatt gibt der akademischen Zunft eine Fülle von spannenden Impulsen. Es ist daher sehr zu hoffen, dass viele der darin enthaltenen Ideen, Skizzen und Thesen Eingang in umfangreiche Forschungsprojekte und Arbeiten finden werden. Die gelungene Struktur des Buches erlaubt es, dass sich die Festschrift auch themenorientiert lesen lässt. Deshalb macht sie sich auch als historisches «Lesebuch» auf dem Nachttisch von Historikerinnen und Historikern sehr gut.

Zitierweise:
Zsolt Keller: Rezension zu: Catherine Bosshart-Pfluger, Joseph Jung, Franziska Metzger (Hg.): Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Festschrift für Urs Altermatt. Frauenfeld/Stuttgart/Wien, Huber Verlag, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 349-353.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 349-353.

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